“Ich arbeite jeden Tag an meiner eigenen Abschaffung”
In seiner Funktion als Ostbeauftragter der Bundesregierung setzt sich Carsten Schneider für bessere Lebensverhältnisse in Ostdeutschland und die Integration der Region in das gesamte Bundesgebiet ein. Wie sich die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland entwickelt, wie sehr seine Position gerade vor dem Hintergrund der anstehenden Landtagswahlen gebraucht wird und welche Rolle Lokaljournalismus und ehrenamtliches Engagement für die Demokratie in Deutschland spielen, erzählt der 48-Jährige im Gespräch mit Stefan Staindl vom Wochenkurier Lokalverlag in Elsterheide, das er exklusiv für die Mitgliedsverlage des BVDA führte.
Als Ostbeauftragter haben Sie für die Bundesregierung seit Dezember 2021 Ostdeutschland im Blick, um vor allem strukturelle Unterschiede abzubauen. Inwieweit ist dafür, 34 Jahre nach der deutschen Einheit, immer noch ein Ostbeauftragter notwendig?
Ich arbeite jeden Tag an meiner eigenen Abschaffung. Aber noch ist es nicht so weit. Meine Kernaufgabe: Ich versuche die Entscheidungen der Bundesregierung für Ostdeutschland positiv zu beeinflussen. Dafür ist die Anbindung im Kanzleramt sehr hilfreich. Und es zeigt, dass es der Bundesregierung wichtig ist, dass Menschen überall in Deutschland gleich gut leben können, egal ob in Ost oder West. Mir geht es auch darum, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen der Ostdeutschen zu stärken, weil sie in den letzten Jahren viel geschafft haben. Darauf können sie stolz sein.
Was ist für Sie selbst die größte Herausforderung, die Ihr Job mit sich bringt?
Eine differenziertere Perspektive auf Ostdeutschland fände ich gut. Es gibt oft nur Schwarz oder Weiß. Deshalb ist mir der „neue Blick“ auf Ostdeutschland so wichtig. Das erfordert aber mehr Neugier und Interesse füreinander, in West und Ost. Zu lange standen vermeintliche Defizite Ostdeutschlands im Mittelpunkt. Ostdeutschland ist vielfältig und hat viele Stärken, aber in manchen Regionen auch besondere Herausforderungen. Die Stärken müssen wir ausbauen und die Probleme angehen anstatt uns an Stereotypen abzuarbeiten.
An welchen Stellschrauben wollen und müssen Sie noch drehen, um den Aufbau Ost voranzutreiben, die Lebensverhältnisse anzugleichen und um Deutschland auch in der Zivilgesellschaft zu vereinen?
Einerseits hat sich Ostdeutschland seit 1990 sehr gut entwickelt. Andererseits ist die ostdeutsche Wirtschaft noch immer von kleinen und mittleren Unternehmen geprägt, große Unternehmen sind seltener. Die gute Nachricht: Derzeit wird die wirtschaftliche Landkarte in Deutschland neu gezeichnet. Internationale Unternehmen z.B. aus den Bereichen Halbleiter oder E-Mobilität eröffnen Fabriken hier, auch weil der Ausbau der Erneuerbaren Energien bei uns besser vorankommt. Damit wird der Osten zum Vorreiter in wichtigen Zukunftstechnologien. Dieses große Potential wollen wir nutzen, damit der Osten vorne mitspielt.
Auch der Lohnunterschied zwischen Ost und West treibt mich um. Es ist gut, dass der gesetzliche Mindestlohn auf mittlerweile 12,41 Euro pro Stunde erhöht wurde. Zugleich muss in Ostdeutschland die Tarifbindung steigen. Denn wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber die Löhne aushandeln, führt das zu fairen Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen.
Und noch immer sind Ostdeutsche in Führungs- und Entscheidungspositionen unterrepräsentiert – ob in Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Medien oder Kultur. Das ist 34 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mehr hinnehmbar. Die Bundesregierung hat sich deshalb verpflichtet, in der Bundesverwaltung mehr Leitungspositionen mit Menschen aus Ostdeutschland zu besetzen. Sie will damit auch ein Vorbild für andere Teile der Gesellschaft sein.
Welche Rolle nimmt in diesem Zusammenhang ehrenamtliches Engagement ein?
Eine ganz zentrale Rolle. Wenn Menschen sich in ihrer Gemeinde engagieren, stärkt das den gesellschaftlichen Zusammenhalt und erzeugt eine positive Stimmung. Wer sich vor Ort einbringt, kann etwas bewegen. Das ist der Kern unserer Demokratie. Denn Entscheidungen in der Politik leben davon, dass sie von Menschen mitgestaltet und mitgetragen werden.
Gemeinsam mit der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt suchen Sie im Engagement-Wettbewerb »machen!2024« Ideen für Ostdeutschland und vergeben Preisgelder, um auch vor allem das vielfältige Engagement in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands zu würdigen. Inwiefern kann dieser Wettbewerb dazu beitragen, Ihre Ziele als Ostbeauftragter zu erreichen?
Mit dem Wettbewerb und den Preisgeldern unterstützen wir unbürokratisch die Umsetzung von ganz konkreten Ideen – insbesondere abseits der großen Zentren. Wir möchten damit jenen Menschen den Rücken stärken, die sich vor Ort für die Gemeinschaft engagieren, ihr Lebensumfeld attraktiver gestalten und damit Gemeinsinn stiften. Das ist wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, gerade in ländlichen Regionen.
Welchen Spielraum sehen Sie hinsichtlich der Anerkennung des ehrenamtlichen Engagements? Inwieweit reichen Ehrenamtskarte und Freiwilligenpass, um diese freiwillige Arbeit zu würdigen oder bedarf es hier noch stärkere Impulse, damit sich Menschen in ihrem Lebensumfeld ungezwungen einbringen?
In Deutschland engagieren sich Millionen Bürgerinnen und Bürger – vom individuellen Engagement bis zum Ehrenamt in ganz unterschiedlichen Bereichen, z.B. im THW, in der Freiwilligen Feuerwehr, Sportvereinen, Kirchen, Migrantenorganisationen, Stiftungen, im kulturellen Bereich, als Wahlhelfende und in der Wohlfahrtspflege.
Ihnen gebührt unsere volle Anerkennung. Zugleich müssen wir diesen Aktiven die passenden Strukturen und Rahmenbedingungen für ihr Engagement bieten und diese fördern. Damit meine ich z.B. den Bürokratieabbau im Ehrenamt, Hilfe und Unterstützung für Vereine im „Vereinsalltag“ und auch die Möglichkeit Beruf und Ehrenamt gut zu verbinden. Aber ein Dankeschön kann auch mal konkret sein: die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) hat zum Beispiel schon an Ehrenamtliche Freikarten zu Fußball-Länderspielen verschenkt. Das find ich eine schöne Geste.
Rund 29 Millionen Menschen engagieren sich – laut dem Bundesministerium des Innern und für Heimat – freiwillig in Deutschland für das Gemeinwohl. In welcher Art und Weise unterstützt diese der Bund, damit sie ihre ehrenamtliche Tätigkeit ausüben können? Inwieweit fließen etwa auch Bundesmittel in die Förderung des Ehrenamtes – gerade mit Blick auf die ländlichen Regionen im Osten der Republik?
Die Bundesregierung hat 2020 die erste zentrale Anlaufstelle auf Bundesebene gegründet: Die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Sie fördert, berät bzw. informiert und forscht zum Ehrenamt, zudem vernetzt sie Bund, Länder, Kommunen, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Dafür stehen ihr im Jahr 30 Mio. Euro zur Verfügung.
Insbesondere die gezielte Förderung des Engagements in ländlichen Regionen durch die DSEE stärkt die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Die Stiftung kann mit vielen Förderprogrammen an Orten helfen, an denen keine ausreichenden Unterstützungsstrukturen vorhanden sind. Dazu gehört eine unkomplizierte finanzielle Förderung mit kleineren Beträgen, lokale Netzwerke werden gefördert und die DSEE hilft auch bei Engagement und Ehrenamt die Möglichkeiten des digitalen Wandels zu nutzen. Auch der Wettbewerb „machen!“ leistet einen wichtigen Beitrag.
Ehrenamt ist auch gelebte Demokratie. Die Menschen übernehmen Verantwortung, engagieren sich für das, was sie lieben und gestalten so die Gesellschaft mit. Viele Leute sind auch in Stadt- und Gemeinderäten ehrenamtlich aktiv. Vor allem viele U30-Jährige wollen sich in Ostdeutschland aktiv in ihre Kommune einbringen und stellen sich zur Wahl. Inwieweit ist das eine Chance für Ostdeutschland?
Ohne die vielen ehrenamtlich tätigen Menschen kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Gerade auf der kommunalen Ebene werden Entscheidungen getroffen, die Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit von Regionen maßgeblich bestimmen. Ich denke hier insbesondere an den Ausbau der Infrastruktur und erneuerbarer Energien. Viele junge Menschen haben ganz konkrete Vorstellungen, wie ihre Heimat attraktiver werden kann. Es ist daher ein großer Gewinn für die ostdeutschen Kommunen, wenn sich diese Generation in den Stadt- und Gemeinderäten einbringt und die Zukunft mitgestaltet.
So ein Ehrenamt in der Kommunalpolitik ist nicht leicht zu schultern. Mancherorts ziehen sich aktive Leute aus ihren Ämtern zurück, weil sie zunehmend Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt sind. Wie können diese Leute geschützt beziehungsweise gestärkt werden, damit sie weiter an demokratischen Prozessen teilnehmen und diese der Gesellschaft vorleben?
Ein Ehrenamt in der Kommunalpolitik zu übernehmen ist eine wichtige Aufgabe. Denn in den Gemeinderäten werden die Weichen für die Zukunft gestellt. Dabei gibt es auch mal Konflikte, aber unterschiedliche Meinungen gehören zur Demokratie dazu. Inakzeptabel sind hingegen verbale Anfeindungen, Diffamierungen oder Hasspostings gegen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern. Dem müssen wir energisch entgegentreten. Wir haben daher eine bundesweite Ansprechstelle eingerichtet, die Betroffene unterstützt und berät. Noch wichtiger ist aber, dass sich die demokratischen Kräfte vor Ort zusammenschließen und gemeinsam handeln. Es geht darum, wie sich die jeweilige Gemeinde für die Zukunft aufstellt und in welcher Gesellschaft wir leben möchten.
In Sachsen, Thüringen und Brandenburg wählen die Bürger im September dieses Jahres einen neuen Landtag. Mit welchen Erwartungen blicken Sie auf diese Wahlen in Ostdeutschland und wie groß ist die Gefahr, dass der Osten dort unregierbar wird, weil sich möglicherweise Regierungsbildungen als schwierig bis unmöglich erweisen könnten?
Ich vertraue den Ostdeutschen. Sie haben 1989 eine Diktatur zu Fall gebracht und Demokratie und Freiheit erkämpft. Sie betrachten Entwicklungen daher kritischer und hinterfragen Entscheidungen eher. Das ist gut so. Denn nur im Austausch verschiedener Positionen kann sich Neues entwickeln. So funktioniert die Demokratie und das stärkt den Zusammenhalt. Die meisten Menschen im Osten wollen eine weltoffene und tolerante Gesellschaft.
Klassische Lokalmedien stehen vor allem in Ostdeutschland zunehmend unter Druck, weil Werbeumsätze deutlich zurückgehen und Verkaufszahlen sinken. Es drohen Nachrichtenwüsten mit Versorgungsengpässen hinsichtlich aktueller Informationen, ohne die eine demokratische Debatte in der Bevölkerung nicht stattfinden kann. Inwiefern sehen Sie hier die Demokratie in Gefahr und welche Möglichkeiten hat der Bund, die etablierten Lokalmedien in Ostdeutschland zu unterstützen?
Die lokale Zeitung gibt Auskunft darüber, was in den Vereinen passiert, welche Bauprojekte es gibt, was für Stadtfeste geplant sind und was im Lokalparlament besprochen wird. Sie trägt damit wesentlich zum Prozess örtlicher Willensbildung bei und ist damit für die lokale Demokratie unverzichtbar. Gleichzeitig ist es aber gute Tradition, dass Staat und Medien getrennt sind, auch was die Finanzierung betrifft, um eine unabhängige Berichterstattung zu gewährleisten. Der digitale Wandel bietet auch für Lokaljournalismus neue Möglichkeiten. Wichtig ist, dass unabhängiger Journalismus erhalten bleibt. Zusätzlich ist der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk regional breit vertreten, damit wirklich auch alle einen Zugang zu lokalen Informationen bekommen.
Der Strukturwandel in der Lausitz mit dem Ausstieg aus der Braunkohleverstromung stellt die betroffenen Regionen vor großen Herausforderungen. Wie betrachten Sie den Prozess dieser Wandlung und wie bewerten Sie das Tempo dieses Umbruchs? Immerhin soll 2038 das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland stillgelegt werden.
Den Strukturwandel in den Braunkohleregionen in Ostdeutschland sehe ich mindestens so sehr als Chance wie als Herausforderung. In den Regionen wird vieles für eine zukunftsfeste Infrastruktur und Arbeitsplätze getan. Die Lausitz und das Mitteldeutsche Revier bekommen dafür vom Bund Mittel in Höhe von rd. 25 Mrd. Euro für die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, zwei Großforschungszentren und zahlreiche Projekte in den einzelnen Kommunen. Darüber hinaus werden 5.000 Stellen in Bundesbehörden in den Regionen geschaffen. Vor kurzem wurde in Cottbus ein Bahnwerk eröffnet, das neue gutbezahlte Arbeitsplätze bietet. Da ist gerade viel in Bewegung und zwar zum Guten, und davon wird schon sehr vieles deutlich vor dem Zieldatum 2038 sichtbar sein.
Mit dem Strukturwandel kommen neue Jobs in die brandenburgische und sächsische Lausitz, die gut bezahlt sind, jedoch immer noch unter dem Verdienst in Westdeutschland liegen. Das Lohngefälle zwischen Ost und West beträgt laut dem Stepstone Gehaltsreports 2024 aktuell 17 Prozent. Eine Ursache ist die deutlich geringere Tarifbindung in Ostdeutschland. Welche Möglichkeiten sehen Sie, hier zeitnah einen Ausgleich hinzubekommen?
Der Lohnrückstand in Ostdeutschland hat mehrere Ursachen. Es gibt hier weniger Betriebe mit Tarifverträgen und weniger Industrie-Unternehmen. Die Strategie der Bundesregierung, die Ansiedlung von Großunternehmen sowie von Bundes- und Forschungseinrichtungen in Ostdeutschland zu forcieren, wird zu Veränderungen führen.
Klar ist: Tarifbindung ist gerade in Zeiten von Fachkräftemangel wichtig, denn gute Löhne und Arbeitsbedingungen sind nicht nur eine Frage der Fairness, sondern auch der Arbeitgeberattraktivität. Ostdeutsche Beschäftigte müssen nicht länger zu schlechten Löhnen und Bedingungen arbeiten. Auch die Bundesregierung setzt sich für eine Stärkung der Tarifbindung ein, etwa durch das geplante Bundestariftreuegesetz.